Gemälde von Grimshaw
The Lady of Shalott
 

Die schönste Jungfrau von Astolat

Einmal, als König Artus sich auf der Rückreise nach Camelot befand, ließ er verkünden, daß bei
seiner Rückkehr ein großes Turnier veranstaltet werden sollte. Damals bestand Sir Lanzelot
gerade einige Abenteuer in anderen Gegenden des Landes, doch als er von dem Turnier hörte,
dachte er, es wäre sicherlich eine vergnügliche Sache, verkleidet an diesem Turnier
teilzunehmen und zu sehen, ob man ihn erkannte oder nicht. So ritt also auch er nach
Camelot, ohne daß der König etwas davon wußte. Unterwegs kam er in die kleine Stadt
Astolat, welche heute Guildford heißt, kurz nachdem Artus und sein Hof die Burg dort betreten
hatten. Und damit niemand ihn erkannte, wohnte er im Hause eines alten Ritters namens Sir Bernhard.
Sir Bernhards Haus stand jedoch unweit der Burgmauern, und aus einem hoch gelegenen
Fenster der Burg blickte Artus hinunter und sah, wie Lanzelot in Sir Bernhards Garten
spazieren ging, und ahnte, warum er sich von den anderen fernhielt. Er lächelte. »Ich habe
gerade einen Ritter gesehen, der bei unserem Turnier große Taten vollbringen wird«, meinte
er. Seine Begleiter drängten sich um ihn und blickten ebenfalls aus dem Fenster, doch
unterdessen war Lanzelot in Sir Bernhards Haus gegangen, so daß niemand mehr zu sehen
war. »Wer war es denn?« fragten sie den König. Aber Artus lachte nur und antwortete: »Ihr
werdet es beizeiten schon erfahren.«

Sir Bernhard hatte zwei Söhne und eine Tochter. Die beiden jungen Männer waren erst
kürzlich zu Rittern geschlagen worden. Das Mädchen hieß Elaine, wie auch König Pelles'
Tochter, die Mutter von Galahad, und man nannte sie stets die Schönste Jungfrau von Astolat,
denn sie war wirklich das schönsteMädchen der Stadt.Seinen Namen nannte Lanzelot seinem
Gastgeber, Sir Bernhard, nicht, doch er erzählte ihm von seiner Absicht, an dem Turnier in
Camelot teilzunehmen; und damit ihn dort wirklich niemand erkannte, fragte er seinen
Gastgeber, ob dieser ihm einen Schild leihen könnte.
»Denn mein eigener ist überall bekannt«, sagte er. »Sehr gerne«, erwiderte Sir Bernhard.
»Mein älterer Sohn, Tirre, trug an dem Tag eine Wunde davon, an dem er zum Ritter
geschlagen wurde, so daß er vorerst an keinem Turnier teilnehmen kann. Sein Schild ist
nirgendwo sonst bekannt als nur hier in Astolat. Ihr könnt ihn nehmen, und keiner von Euren
Freunden wird Euch erkennen. Und auch wenn Ihr mir eueren Namen nicht nennen wollt, so
bin ich doch sicher, daß Ihr ein Ritter von hervorragendem Ruf seid. Deshalb würde es mich
freuen, wenn mein jüngerer Sohn, Lavaine, Euch nach Camelot begleiten dürfte.« »Seine
Gesellschaft ist mir herzlich willkommen«, entgegnete Lanzelot.

Elaine, die Schönste Jungfrau von Astolat, betrachtete Lanzelot insgeheim und verliebte sich in
ihn und dachte, daß es für sie nichts Schöneres auf der Welt geben könne, als ihn zum Ritter
zu haben. Schüchtern näherte sie sich und fragte ihn, ob er zu dem Turnier nicht ein Pfand von
ihr tragen könne. »Wenn ich das täte, Herrin«, entgegnete Lanzelot freundlich, »dann wäre
das mehr, als ich je für eine andere Dame getan habe.« Denn Lanzelot kämpfte immer, wenn
auch nur heimlich, im Namen der Königin Ginevra und trug niemals das Zeichen einer anderen
Dame. Doch als er erkannte, wie traurig seine Worte Elaine machten, tat sie ihm leid; und als
er sich erinnerte, daß er ja in einer Verkleidung nach Camelot reiten wollte, lenkte er ein.
»Ich werde Euer Pfand tragen, Herrin.« Freudig überreichte sie ihm daraufhin eine Schleife aus
roter Seide, die mit Perlen bestickt war. Dafür vertraute er ihr seinen Schild an, den er in ein
Tuch gewickelt hatte. Sie sollte ihn aufbewahren, bis er wieder zurückkäme.

Am nächsten Morgen ritten Lanzelot und der junge Lavaine nach Camelot, wo sie bei einem
reichen Kaufmann, den Sir Bernhard gut kannte, eine Unterkunft fanden. Lanzelot wurde von
niemandem erkannt, da er sich von allen Rittern außer Lavaine fernhielt. Am Tag des Turniers
ritten Lanzelot und Lavaine zum Turniergrund, wo die beiden Gruppen bereits kämpften, während Artus und Gawein das Geschehen verfolgten, um zu entscheiden, wer die besseren
Kämpfer waren. Und die Partei, zu der die meisten Ritter der Tafelrunde gehörten, war viel
stärker als die andere. Lanzelot befestigte die rote Schleife an seinem Helm. »Laßt uns mit den
Schwächeren kämpfen«, entschied er und ritt mit Lavaine auf das Feld.

Mit einer Lanze stieß er fünf Ritter von ihren Pferden, und dazu gehörte auch Sir Kay, der
Seneschall während Lavaine trotz seiner Jugend und seiner Unerfahrenheit Sir Lucan und Sir
Bedivere, seinen Bruder, aus dem Sattel warf, beide alte und unerfahrene Ritter von König
Artus. Als die erste Lanze zerbrach, ritt Lanzelot mit einer zweiten gegen drei von Artus'
Neffen, Gaheris, Agrawein und Mordred, und warf sie zu Boden. Gegen Sir Gareth kämpfte er
nicht, denn er wußte, dass Gareth geschworen hatte, zu keiner Zeit gegen ihn eine Waffe zu
erheben, da er ihn von allen Rittern am meisten liebte.»Seht doch, wie er meine Brüder vom
Pferd geworfen hat«,meinte Gawein zu König Artus. »Dieser Ritter mit der roten Schleife am
Helm ist wahrlich ein hervorragender Kämpfer. So wie er reitet und die Lanze führt, könnte
man ihn für Sir Lanzelot halten, trüge er nicht das Pfand einer Dame.«

Doch Artus vermutete, daß es sich tatsächlich um Lanzelot handelte, und er lächelte. »Ich
zweifle nicht daran, daß uns der Fremde nach dem Turnier seinen Namen nennen wird.
Geduldet Euch so lange.« Als sie sahen, wie ihre eigenen Kameraden der Tafelrunde von zwei
fremden Rittern bedrängt wurden, versammelten Lanzelots Verwandte sich auf dem
Tumiergrund und unterhielten sich darüber. »Wenn Lanzelot hier wäre«, sagten sie, »dann
würde so etwas nie geschehen. Aber wir müssen zusehen, daß niemand von uns behauptet,
uns fehle der Mut, nur weil Lanzelot nicht mit uns kämpfte.« Und Sir Bors und Sir Lionel und Sir
Ector de Maris ritten gegen Lanzelot und Lavaine. Alle drei griffen gemeinsam an, so daß
Lanzelots Pferd getötet und er selbst verwundet wurde, da durch einen unglückli-chen Zufall
Sir Bors' Lanze sich an einer Stelle durch Sir Tirres Schild bohrte, wo Lanzelots Harnisch am schwächsten war. Die Spitze der Lanze drang in seine Seite und brach ab. Als Lavaine
gewahrte, das Lanzelot verwundet war, stürzte er sich auf einen anderen Ritter und warf ihn
nieder, dann nahm er das Pferd des Unterlegenen am Zügel, brachte es zu Lanzelot und half
ihm aufzusitzen.

Und trotz seiner Verletzung vollbrachte Lanzelot große Taten gegen seine eigenen
Verwandten, so daß sie am Ende besiegt wurden. »Wer immer dieser fremde Ritter ist«,
sagten sie einmütig, »er wäre sogar Lanzelot gewachsen.« Dann befahl Artus, das
Trompetensignal erklingen zu lassen, das das Ende des Turniers verkündete, und einstimmig
wurde der Ritter mit der roten Schleife an seinem Helm zum besten von allen erklärt und vor
gerufen, um den Siegespreis in Empfang zu nehmen. »Nun«, sagte Artus zu Gawein, »werden
wir erfahren, wer er ist, dieser hervorragende Ritter.« Doch Lanzelot sagte zu Lavaine: »Ich
bin verwundet undmuß mich ausruhen. Laßt uns wegreiten.« Und ehe man ihn davon abhalten
konnte, hatten sie den Turnierplatz verlassen und waren im angrenzenden Wald
verschwunden.
Dort zügelte Lanzelot sein Pferd, »Mein Freund«, wandte er sich an Lavaine,
»die Spitze der Lanze, die mich traf, steckt immer noch in meiner Seite. Ich bitte Euch, zieht
sie heraus, denn sie bereitet mir schlimme Schmerzen.«

Lavaine zog Lanzelot die Rüstung aus und zog die Lanzenspitze aus der Wunde, die er
verband, so gut er es vermochte.Doch er warjung und erst vor kurzem zum Ritter geschlagen
worden, und er wußte nur wenig von solchenDingen; in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft
hatte er Lanzelot liebgewonnen. »Mein guter Herr«, sagte er besorgt, »was soll ich jetzt tun?
Wenn wir für Euch nicht schnellstens Hilfe und ein Lager finden, dann werdet Ihr an dieser
Wunde allein hier im Wald sterben.« Trotz seiner Schmerzen lächelte Lanzelot. »An einer
Wunde von der Lanze meines Cousins Bors möchte ich nicht unbedingt sterben; denn das
wäre für ihn und auch für mich sehr schlimm. Nicht weit von hier, im Wald, wohnt ein alter
Ritter namens Baldwin, der einmal ein Ritter der Tafelrunde war, bis er der Welt entsagte und
in den Wald zog, um fortan als Einsiedler zu leben. Er war schon immer in der Heilkunde sehr
bewandert. Helft mir auf mein Pferd, und ich werde Euch den Weg zu seinem Haus zeigen.«

Nur unter Schwierigkeiten konnte Lanzelot mit Lavaines Hilfe sein Pferd besteigen, und
zusammen ritten sie den Weg, den Lanzelot wies. Nach einiger Zeit gelangten sie zu Sir
Baldwins Haus. Einen Arm um Lanzelot gelegt, damit dieser nicht aus dem Sattel fallen konnte,
schlug Lavaine mit dem Lanzenschaft gegen das Tor und rief, daß man ihnen öffnen möge. Ein
Diener kam herausgelaufen, ihm folgte Sir Baldwin. »Wer ist da?« fragte der alte Ritter. »Wer
klopft an mein Tor und ruft so laut nach mir?« »Ich habe hier einen trefflichen Ritter«,
antwortete Lavaine, »er ist so schwer verwundet, daß er vielleicht stirbt. Ich flehe Euch an,
rettet ihn, denn ich sah ihn heute in Camelot große Taten vollbringen.« »Zu welcher Partei
gehörte er«, erkundigte Sir Baldwin sich. »Zu König Artus' oder zur anderen?« »Er kämpfte
gegen die Gemeinschaft der Tafelrunde. Doch er errang den Siegespreis.« »Früher einmal«,
meinte der alte Ritter, »hätte ich ihn dafür sicherlich gehaßt, den ich gehörte zur Gemeinschaft
um König Artus. Doch heute sind für mich alle Männer in Not gleich. Ich helfe Euch, ihn
hereinzubringen.«
Als er Sir Lanzelot ansah, glaubte Sir Baldwin ihn zu erkennen, doch er war sich dessen nicht sicher, denn Lanzelots Gesicht war wegen der Verletzung totenblaß; außerdem war bereits
der Abend angebrochen, und es wurde dunkel. »Wie heißt Ihr?« fragte Baldwin, als er ihm
durch die Tür half.»Ich bin hier fremd«, entgegnete Lanzelot. Doch als sie im Hause waren und
das Licht auf sein Gesicht fiel, erkannte Baldwin ihn sofort. »Warum verschweigt Ihr mir Euren
Namen?« wollte er wissen. »Von allen Rittern im Lande seid Ihr der beste. Es ist mir eine große
Freude, daß ausgerechnet mir die Aufgabe zufällt. Euch wieder gesund zu machen.« Und er
mit Lavaines Hilfe; danach schlief Lanzelot. Sir Baldwin wandte sich zu Lavaine um und mußte
lächeln, als er dessen bleiches Gesicht gewahrte. »Er wird wieder gesund«, beruhigte er ihn.
»Er wird nicht sterben.«

Als König Artus erfuhr, daß der fremde Ritter den Tumiergrund verwundet verlassen hatte,
schickte er Gawein aus, ihn zu suchen. Doch obwohl Gawein und seine Knappen durch ganz
Camelot ritten, fanden sie keine Spur von ihm; zwei Tage später mußten Artus und sein Hof
nach London aufbrechen. Auf dem Weg dorthin kamen sie auch nach Astolat. Dort nutzten Sir
Bernhard und seine Tochter, die Schönste Jungfrau, die Gelegenheit, Gawein als einen der
Kampfrichter des Turniers von Camelot nach dem Ausgang des Wettstreites zu fragen, denn
sie hatten weder von Lanzelot noch von Lavaine irgendeine Nachricht erhalten. »Ein Ritter
nahm an dem Turnier teil, der alle anderen überflügelte«, erzählte Gawein. »Er trug an seinem
Helm die Schleife einer Dame, rot und mit Perlen bestickt. Seinen Namen kennen wir jedoch
nicht, auch nicht den seines Gefährten, der sich ebenfalls als mannhafter Ritter erwies.« Die
Schönste Jungfrau von Astolat stieß bei seinen Worten einen Freudenschrei aus.
»Meine Schleife war es, die er trug, und was immer er an großen Taten vollbracht hat, er tat es
mir zu Ehren.« »Und sein Gefährte war der jüngere meiner beiden Söhne, Lavaine«, fügte Sir
Bernhard voller Stolz hinzu.

Gawein wandte sich an das junge Mädchen. »Wie lautet denn der Name Eures Ritters?«
»Wirklich«, mußte sie zugeben, »das weiß ich nicht. Dabei ist er der einzige Mann, den ich je
lieben werde.« Und sie schilderte Gawein, wie Lanzelot den Schild ihres Bruders genommen
und seinen eigenen bei ihr zurückgelassen hatte, bis er aus Camelot zurückkäme. »Habt Ihr
diesen Schild noch?« fragte Gawein. Sie holte ihn aus ihrem Gemach, und Gawein sah, daß es
der rote und silberne Schild Lanzelots war, der mit seinem Wappen bemalt war. »Ist das
tatsächlich der Schild des Ritters, den Ihr liebt?« wollte er wissen. Sie lächelte glücklich. »Das
ist der Schild des einzigen Ritters, den ich je lieben werde.« Und Gawein hatte Mitleid mit ihr,
denn er wußte nur zu gut, daß Lanzelot niemals ihre Liebe erwidern würde. »Das ist der Schild
des besten Ritters im ganzen Land«, sagte er. Doch sie hob nur stolz den Kopf. »Das wußte
ich schon, ehe Ihr es mir sagtet.« »Wie heißt er denn?« fragte Sir Bernhard. »Es ist Lanzelot
vom See«, antwortete Gawein. Sie waren verblüfft. »Wo ist er jetzt?« fragte die Schönste
Jungfrau besorgt. »Das Herrin, wüßte ich auch gerne, und zwar sowohl um meinetwillen als
auch um Euretwillen.« Und Gawein berichtete, wie Lanzelot verwundet worden und mit seinem
Gefährten vom Tumiergrund weggeritten war; die Schönste Jungfrau weinte. »Ich werde nicht
ruhen«, gelobte sie, »ehe er und meinBruder nicht gefunden werden.«

Gawein erzählte danach König Artus alles, was er erfahren hatte, daß der Ritter, der so
hervorragend gekämpft hatte, Sir Lanzelot war, und daß die Schönste Jungfrau von Astolat in
großer Liebe zu ihm entbrannt war. »Ich wußte von Anfang an, daß es Lanzelot war«, gestand
Artus. »Aber da er wollte, daß dies nicht bekannt wurde, habe ich darüber geschwiegen. Aber
ich wunderte mich doch, dass er das Pfand dieser Dame trug. Ist es möglich, daß Lanzelot sich
schließlich doch eine andere Dame gesucht hat? Und dann macht mir seine Wunde große
Sorgen. Ich wünschte, wir wüßten, wo er sich befindet.« Doch er konnte sich in Astolat nicht
mehr länger aufhalten, da er in London erwartet wurde. In London berichtete Gawein ganz
offen darüber,daß es sich bei dem Ritter mit der roten Schleife um Sir Lanzelot gehandelt
hatte, und all seine Verwandten waren bestürzt und grämten sich, als sie begriffen, daß sie
gegen ihn gekämpft hatten. Und die schlimmsten Vorwürfe machte sich Sir Bors, da er es
gewesen war, der seinen Cousin verwundet hatte. Aber als Ginevra erfuhr, daß Lanzelot das
Pfand einer Dame getragen hatte, geriet sie in Zorn und ließ Bors rufen, um ihm in dieser
Angelegenheit noch einige Fragen zu stellen. »Ich zweifle nicht, gute Königin, daß er es nur
deshalb tat, um wirklich nicht erkannt zu werden«, meinte er.

Ginevra hingegen konnte ihre Eifersucht nicht im Zaum halten. »Er ist ein lügnerischer Ritter,
wenn er so etwas tut«, klagte sie. »Und ich freue mich, daß er bei all seinem Stolz und seiner
Prahlerei von Euch verwundet und aus dem Turnier geworfen
wurde.« »Aber, gute Königin,
das war nur ein Unglücksfall, und Ihr tut ihm wirklich Unrecht, wenn Ihr ihn stolz und
prahlerisch nennt, da er doch einer der bescheidensten Männer ist.« Und Bors traf Anstalten,
nach Camelot zurückzureiten, um seinen Cousin zu suchen.Als Ginevra begriff, daß er den Hof
verlassen wollte, fragte sie ihn: »Wohin wollt Ihr, Sir Bors?« »Ich will Lanzelot suchen,
Königin.« Und obwohl diese Auskunft sie erleichterte, zuckte sie die Schultern, als wäre es ihr
gleichgültig.

Die Schönste Jungfrau von Astolat bat ihren Vater um die Erlaubnis, sich auf den Weg zu
machen und Lanzelot und ihren Bruder zu suchen. Ihr Vater gestattete es ihr. Mit einem
Knappen und zwei Dienern brach sie also auf und durchstreifte das Land rund um Camelot.
An einem Morgen, als es Lanzelotschon etwas besser ging, ergab es sich, daß Sir Lavaine ihn
für eine oder zwei Stunden allein ließ und hinausritt, um sein Pferd zu trainieren, und dabei
begegneten Bruder und Schwester sich und begrüßten einander erfreut. »Sagt mir, wie geht
es Sir Lanzelot?« erkundigte die Schönste Jungfrau sich.»Er ist ernsthaft verwundet, doch der
gute Ritter Sir Baldwin hat versprochen, daß er sich erholen wird. Aber verratet mir doch
einmal, Schwester, woher Ihr seinen Namen kennt? Ist er wirklich Lanzelot vom See?«

Und sie erzählte ihm alles, was sie von Sir Gawein erfahren hatte, so daß er aus dem Staunen
nicht herauskam. Als die Schönste Jungfrau nun selbst sah, wie blaß und schwach Lanzelot
immer noch war, weinte sie, aber Lanzelot lächelte sie an. »Macht Euch keine Sorgen, Herrin,
denn mir geht es bald wieder gut.« Und sie begann ihn zu pflegen, bis er vollends
wiederhergestellt war, und wich ihm nicht von der Seite; kein Mädchen hätte mehr für einen
Ritter tun können, den es liebt. Aber Lavaine war mißtrauisch. »Seid Ihr wirklich Lanzelot vom
See?« »Das bin ich, mein Freund, aber woher wißt Ihr das denn?« Lavaine erzählte ihm alles,
was seine Schwester von Gawein und dem Schild berichtet hatte, und Lanzelot dachte bei sich: »Sicherlich hat Gawein Artus und dem ganzen Hof von dieser Sache erzählt, uns so wird
auch Ginevra sicherlich längst wissen, daß ich das Pfand dieser Dame getragen habe, und sie
wird zornig sein.« Doch laut sagte er: »Wenn meine Verwandten erfahren, wie es mit mir
steht, dann wird sicherlich einer von ihnen losreiten und mich suchen, dessen bin ich mir ganz
sicher. Ich bitte Euch, guter Lavaine, haltet nach ihm Ausschau, damit Ihr ihn zu mir bringen
Bors und Sir Lionel erkennen könnte«.

»Allerdings zweifle ich nicht daran, daß es Sir Bors sein wird, der nach mir sucht«, sagte
Lanzelot noch, »denn er war es schließlich, der mich verwundete.« Also beobachtete Lavaine
Camelot, bis Sir Bors sich von dort näherte, und er begrüßte ihn und erzählte ihm, daß er von
Lanzelot käme. Gemeinsam ritten sie daraufhin zu Sir Baldwins Haus. »Verzeiht mir, daß ich
Euch so schlimm verwundet habe« bat Bors, als er an Lanzelots Bett stand. »Woher hättet Ihr
wissen sollen, daß ich es war?« fragte Lanzelot. Er lächelte. »Macht Euch keine trübsinnigen
Gedanken, lieber Cousin. Vergessen wir das und reden wir von etwas anderem. Wie geht es
zum Beispiel unserer Herrin, der Königin?«
»Sie ist wütend, weil Ihr bei dem Turnier ein Pfand von der Schönsten Jungfrau von Astolat
getragen habt, und weil sie von der großen Liebe gehört hat, in welcher das Fräulein zu Euch
entbrannt ist.« »Ich hatte befürchtet, daß es so kommen würde«, sagte Lanzelot. Bors
beobachtete die Schönste Jungfrau, wie sie im Raum herumlief und Dinge geraderückte. Er
sprach so leise, daß sie nichts hören konnte. »Dieses Mädchen, das Euch zu essen bringt und
Euch pflegt - ist sie die Schönste Jungfrau von Astolat?« »In der Tat, das ist sie, Cousin.«
»Sie ist wirklich schön«, gab Sir Bors zu. »Guter Lanzelot, ich wünschte. Ihr könntet sie lieben,
denn sie scheint eines der süßesten Mädchen zu sein, die ein Mann finden kann, und sie
würde jedem Ritter eine gute Frau sein.« »Ihr wißt doch, Bors, daß es nur eine Dame gibt, die
ich jemals lieben werde.« »Seht doch dieses Fräulein«, bedrängte Bors ihn, »es ist doch
offenbar, daß sie Euch aufrichtig liebt.« Lanzelot wandte den Kopf und seufzte. »Ich wünschte,
sie täte es nicht«, murmelte er.

Danach sprachen sie von anderen Dingen, und Bors erzählte Lanzelot, daß in London am
Allerheiligen-tag ein großes Turnier stattfinden sollte. Lanzelot wollte daran teilnehmen, wenn
er sich bis dahin wieder bei Kräften fühlte. Und vielleicht würde er dort sogar die Königin sehen
und mit seiner Tapferkeit erneut ihre Aufmerksamkeit erringen können. »Wenn meine Wunde
verheilt ist«, sagte er, »werde ich mit Euch zu diesem Turnier nach London reiten.« Doch als er
Sir Baldwin von seinem Plan erzählte, wollte der alte Ritter davon nichts hören. »Vor Weih-
nachten könnt ihr nicht von hier fort«, beschied er ihn. Wenige Tage vor Allerheiligen ging Sir
Baldwin in den Wald, um Kräuter für seine Tinkturen zu sammeln. Er nahm die Schönste
Jungfrau von Astolat mit, die begierig war, die Heilkunst zu erlernen, um Sir Lanzelot helfen zu
können.
Als sie sich auf den Weg gemacht hatten, setzte Lanzelot sich in seinem Bett auf. »Bringt mir
meine Rüstung, Lavaine«, befahl er. »Und Ihr, Bors, laßt mein Pferd satteln, denn ich will
ausprobieren, ob ich schon reiten kann. Wenn alles gut geht, werde ich Euch nach London
begleiten können.« So half Sir Lavaine ihm, die Rüstung und die Waffen anzulegen. Und er
ging hinaus, stieg auf sein Pferd, nahm eine Lanze und stieß einen Baum um. »Seht Ihr«, rief
er den anderen zu, »es geht mir wieder gut, obwohl Sir Baldwin das Gegenteil behauptet.«
Und mit diesen Worten stieß er mit der Lanze kraftvoll gegen den Baumstamm. Doch in diesem
Stoß lag eine solche Wucht, daß seine Wunde bei der Anstrengung wieder aufbrach und er
ohnmächtig vom Pferd auf die Erde sank.

Bors und Lavaine eilten hin, um ihn aufzurichten. In diesem Moment kam die Schönste Jungfrau
zurück. »Was habt Ihr getan?« schrie sie die Männer an. »Ihr habt es zugelassen, daß er sich
trotz Eurer Obhut selbst umbringt.« Und sie rief Sir Baldwin zu sich. »Das ist aber ein
schlimmer Rückfall«, stellte der alte Ritter fest. »Warum hat er nicht etwas mehr Geduld haben
können?« Sie trugen Lanzelot ins Haus und legten ihn auf sein Bett; er schlug die Augen auf
und lächelte ein wenig. »Ich glaubte, ich wäre schon stark genug, um in London an den
Tjosten teilzunehmen, doch wie es scheint, habe ich mich geirrt.« »Wenn Ihr klug seid«,
meinte Baldwin, »dann werdet Ihr das tun, was ich Euch rate. Laßt Euren Cousin nach London
reiten und dann zurückkehren und von dem Turnier erzählen«.
So zog Bors dann zu dem Turnier mit vielen Botschaften und Grüßen von Lanzelot für Artus und
die Ritter der Tafelrunde und mit einer ganz besonderen Botschaft für die Königin. Ginevra
hörte sich die Worte in spöttischem Schweigen an, als wäre Lanzelot ihr gleichgültig. Doch tief
in ihrem Herzen war sie dankbar, daß er sich erholte, und sie sehnte sich danach, ihn
wiederzusehen. Beim Turnier vollbrachte Sir Gareth große Taten und errang den Siegespreis,
und als Bors mit diesen Neuigkeiten aus London in Sir Baldwins Haus zurückkehrte, freute
Lanzelot sich darüber. »Gareth ist ein guter Ritter«, meinte er, »und hat seinen Sieg redlich
verdient. Ich wünschte, ich hätte dort sein können, um ihm wenigstens zuzuschauen.«

Schließlich kam auch der Tag, an dem Sir Baldwin Lanzelot erlaubte, wieder aufzustehen. Mit
einem herzlichen Dank an den alten Ritter machte er sich in Begleitung von Bors und Lavaine
und der Schönsten Jungfrau auf den Weg nach Astolat. Sir Bernhards Freude war unendlich,
als er seinen Sohn und seine Tochter wieder nach Hause kommen sah, und sein älterer Sohn,
von seiner Wunde geheilt, hieß Lanzelot willkommen. »Mein Dank gebührt Euch für den Schild,
den Ihr mir geliehen habt«, erwiderte Lanzelot. »Wenngleich ich annehme, daß er bei dem
Kampf ziemlich zerbeult wurde.« »Das ist nicht so schlimm«, wehrte Tirre ab, »so lange er für
einen so berühmten Ritter wie Euch von Nutzen war.«

Lanzelot und Bors blieben eine Nacht lang in Sir Bernhards Haus und trafen am Morgen alle
Vorbereitungen, um wegzureiten. Doch als Lanzelot sich von Sir Bernhard und seiner Familie
verabschieden wollte, meinte die Schönste Jungfrau von Astolat: »Habt Erbarmen mit mir, Sir
Lanzelot, und laßt mich nicht vor Liebe sterben.« »Was wünscht Ihr denn?« erkundigte
Lanzelot sich. »Ich möchte Eure Frau werden«, entgegnete sie. Lanzelot bedankte sich mit
ausgesuchter Höflichkeit bei iht und sagte: »Ich werde mich stets voller Dankbarkeit an die
Fürsorge erinnern, die Ihr mir habt angedeihen lassen. Aber vergebt mir, Herrin, denn mir
steht der Sinn nicht danach, verheiratet zu sein.«
»Dann werde ich sterben«, schwor sie und weinte. »Das ist wirklich eine traurige Sache«,
meinte Sir Bernhard. »Ich gebe Euch mein Wort«, sagte Lanzelot. »Ich machte ihr keine
Versprechen. Sie ist eine gute und süße Dame und sie ist schön, aber ich wünschte, sie hätte
sich niemals in mich verliebt.« »Vater«, meinte Lavaine, »er sagt die Wahrheit. Er hat ihr nie
Hoffnungen gemacht, daß er sie liebt. Das alles ist ganz von selbst gekommen. Doch ist es so
seltsam, daß sie ihn liebt? Ist er denn nicht der beste Ritter und der edelste aller Männer?«

Bekümmert verabschiedete Sir Bernhard sich von Lanzelot und führte seine Tochter weg, und
Sir Tirre folgte ihnen. Lanzelot wandte sich zu Lavaine um. »Gott schütze Euch, mein Freund.
Was habt Ihr jetzt vor?« »Mit Eurer Erlaubnis«, erwiderte Lavaine, »werde ich mit Euch zu
König Artus' Hof reiten oder wo immer Ihr hin wollt, denn es gibt keinen Herrn, dem ich lieber
dienen möchte.« So ritten Lanzelot, Bors und Lavaine nach Westminster, wo Artus während
jenes Winters Hof hielt, und Artus bereitete Lanzelot ein feierliches Willkommen. Auch die
anderen Ritter begrüßten ihn freudig. Doch Ginevra wollte nicht mit ihm reden, und Lanzelot
war über ihren Zorn sehr unglücklich.

Aber die Schönste Jungfrau wurde blaß und schwach, und nichts von dem, was ihr Vater oder
ihr Bruder Tirre auch unternahmen,konnte sie aufmuntern; und schließlich war es völlig klar,
daß sie sterben würde. Sie rief ihren Vater und ihren Bruder zu sich an ihr Bett. »Ihr seid doch
gelehrt, nicht wahr, Tirre? Würdet Ihr dann für mich bitte einen Brief schreiben?« »Aber gerne,
liebste Schwester.« Und er holte Feder und Pergament. »Dann schreibt«, begann sie. >An den
edelsten Ritter Sir Lanzelot vom See. Ich bin es, welche die Männer die Schönste Jungfrau von
Astolat nannten, und wenn Ihr dies lest, dann bin ich längst tot, wie ich es Euch ankündigte,
als wir uns trennten. Ich werde aus Liebe zu Euch gestorben sein, und weil Ihr diese Liebe
nicht erwidern konntet. Ich bitte Euch nun, sorgt dafür, daß ich angemessen beerdigt werden,
und sprecht ein Gebet für mich. Es ist nur eine bescheidene Bitte< Das wäre alles, Tirre, was
ich geschrieben haben möchte. Wenn ich tot bin, Vater, was sehr bald der Fall sein wird, dann
legt mich in ein Boot und gebt mir den Brief in die Hand und laßt mich auf dem Fluß nach
Westminster rundern. Versprecht es mir.«

Unter Tränen versprach Bernhard es; nach kurzer Zeit starb sie. Wie sie es sich gewünscht
hatte, legten Vater und Bruder ihre Leiche in ein Boot, das mit schwarzer Seide ausgeschlagen
war, und gaben ihr den Brief in die Hand. Ein vertrauenswürdiger Diener sollte das Boot nach
Westminster steuern.Es geschah, daß König Artus und Königin Ginevra zusammen am Fenster
der Burg von Westminster standen, welche am Ufer der Themse erbaut war, und dabei
entdeckten sie das Boot. »Was kann das bedeuten?« fragte Ginevra. Artus rief Sir Kay zu sich
und fragte ihn aus. »Mein Herr und König«, sagte Kay, »von dieser Sache weiß ich überhaupt
nichts, aber ich werde mich erkundigen.« Er ging hinunterzum Fluß und sprach mit dem
Bootsmann. Doch nicht ein Wort gab der Mann zur Antwort.

Sir Kay kehrte zum König zurück. »In dem Boot«, berichtete er, »liegt die Leiche eines jungen
Mädchens, in prachtvolle Gewänder gekleidet, doch wer sie ist, will der Mann, der sie bewacht,
nicht verraten.« »Wir müssen uns das selbst ansehen«, sagte Artus. Gemeinsam gingen er
und die Königin hinunter zum Fluß, bestiegen das Boot und erblickten die Schönste Jungfrau
von Astolat. »Wie lieblich sie ist«, sagte Artus. »Es ist ein großes Leid, dass sie so jung
sterben mußte.« Dann entdeckte Ginevra den Brief, der in der Hand der Jungfrau steckte.
»Seht doch, hier ist ein Brief«, sagte sie. »Vielleicht verrät er uns, wer sie ist.« Artus erbrach
das Siegel des Briefs. »Er ist für Sir Lanzelot«, sagte er. Er las den Brief all jenen vor,
die sich dort versammelt hatten, und viele weinten aus Mitgefühl mit dem Mädchen, das aus
Liebe gestorben war.

Und Ginevra dachte: »Demnach hat Lanzelot sie nie geliebt, und ich habe ihm schon wieder
Unrecht getan.« Und als sie weinte,da flossen die Tränen für sie und Lanzelot und auch für
den Tod der Schönsten Jungfrau. »Geht, holt Lanzelot her«, befahl
Artus, »denn diese Sache
geht ihn an.« Und als Lanzelot sich eingefunden hatte und Sir Lavaine mit ihm, reichte Artus
ihm den Brief. Als er las, was dort geschrieben stand, seufzte Lanzelot. »Sie war ein reizendes
Fräulein, gut und freundlich. Ich wünschte, sie wäre nicht gestorben. Es erfüllt mich mit
Schwermut, daß sie mich zu sehr geliebt hat.«
»Sie konnte nicht anders«, sagte Sir Lavaine,
»denn Ihr seid der beste Ritter von allen.« »Es ist schade«, meinte Artus, »daß Ihr die Liebe des Mädchens nicht erwidern konntet, denn in diesem Fall hätte sie ihr Leben nicht so einfach hingegeben.« »Mein König«, sagte Lanzelot. »Liebe kann nicht dorthin befohlen werden, wo
sie nicht ist, genauso wenig kann sie dort verboten werden, wo sie sehnsuchtsvoll brennt.«
Und für einen Moment sah er Ginevra an und sie ihn. Und in den Augen des anderen konnte
jeder von ihnen lesen, daß ihr Streit beendet war.

Sir Lanzelot und Lavaine sorgten dafür, daß die Schönste Jungfrau von Astolat angemessen
bestattet wurde, so wie sie es sich gewünscht hatte. Lanzelot betete für ihre Seele und
bedauerte ihren Tod zutiefst. Der junge Sir Lavaine blieb bei Lanzelot und erwies sich in allen
rittlichen Tugenden als meisterlich, so daß er schon bald in die Gemeinschaft der Ritter der
Tafelrunde aufgenommen wurde.

Aus der Artussage erzählt von Barbara Leonie Picard.