Die Legende

Die buddhistische Religion kam ungefähr im ersten Jahrhundert n.Chr. aus Indien nach China, aber ihre große Verbreitung geschah dort erst in späteren Jahr-hunderten. Der Buddhismus brachte neue Vorstellungen nach China; doch die Chinesen veränderten die neue Religion ihrem eigenen Lebensstil entsprechend und verknüpften sie mit ihrem eigenen uralten Glauben, so dass Mythen und Geschichten geschaffen wurden, die eine Mischung aus alt-überlieferten und fremden Elementen darstellen.


Der Buddhismus verursachte einen großen Wandel im chinesischen Denken. Eine der wesentlichsten neuen Ideen war die Vorstellung vom Kreislauf des Lebens: Danach wird jeder Mensch je nach seinem vorherigen Verhalten wiedergeboren; Wer es aber in seinem irdischen Leben zur Vollkommenheit gebracht hat, kann ohne Wiedergeburt ins Nirwana eingehen.

Der Buddhismus vermittelte ebenfalls eine neue Achtung vor allem Lebendigen, so dass seine Anhänger Vegetarier sind, weil sie keine Tiere für die Ernährung von Menschen töten wollen. Viele Menschen waren so tief von der neuen Religion beeindruckt, dass sie Mönche und Nonnen wurden und ihr Leben in Armut und Versenkung verbrachten.

Guanyin oder Kwanyin, die chinesische Göttin der Barmherzigkeit, war ursprünglich eine indische Gottheit mit dem Namen Avalokitesvara. Als buddhistische Mönche nach Osten reisten, von Indien über Tibet nach China, wurde der Name der Göttin mit Guanyin übersetzt, das bedeutet "die auf die Welt niederschaut und ihre Schreie hört", sie symbolisiert das Mitleid. Ungefähr bis zum 12. Jahrhundert galt Guanyin gewöhnlich als männliche Gottheit, wie sie es in Indien auch gewesen war; Aber allmählich wurde sie als Göttin dargestellt, wahrscheinlich weil die Fähigkeit des Mitgefühls in China mehr mit dem weiblichen als mit dem männlichen Charakter verknüpft wurde.

Guanyin wurde als Retter verehrt, besonders als Retter in den Gefahren des Meeres, und als die Gottheit, die Kinder schenkt. Möglicherweise sind frühere chinesische Götter und Göttinnen, die für diese Bereiche des menschlichen Lebens zuständig waren, in diese einflussreiche Figur mit eingegangen. Keine andere Gottheit konnte in der Verehrung des Volkes eine ähnlich wichtigen Platz behaupten wie Guanyin.

Ihr Bild fand man in vielen Häusern, und es gab überall Altäre und Tempel, die ihr geweiht waren, so dass selbst Buddha neben ihr unbedeutend erschien. Das Zentrum des Guanyin-Kults ist in Putuo auf der Insel Zhoushan, unmittelbar von der Küste von Zhejiang in Mittelchina, und obwohl alles dafür spricht, dass sie eine "importierte" Göttin ist, glauben viele Chinesen, dass sie ursprünglich eine alte chinesische Prinzessin mit Namen Miaoshan war. Die Geschichte fängt mit ihrem Vater an.

In alten Zeiten lebte ein König, der hieß Miaozhuang. Er herrschte über viele Regionen im Westen Chinas. Er und seine Frau hatten zwei Töchter. Dem König war viel daran gelegen, einen Sohn für die Thronfolge zu haben. Er betete zu den Göttern und brachte ihnen Opfer in der Hoffnung, dass sie ihm den gewünschten Erben gewährten; doch als ihm ein drittes Kind geboren wurde, war es zur Enttäuschung des Königs wieder ein Mädchen.

Sie nannten die Kleine Miaoshan. Von Geburt an erwies sie sich als wahre Buddhistin, indem sie sich weigerte Fleisch zu essen. Als sie heranwuchs, war sie bei allen beliebt, denn sie war ein bescheidenes, freundliches und immer fröhliches Kind. Ihr einziges Ziel im Leben war, eine buddhistische Nonne zu werden und ihr Leben der Religion zu weihen. Als Prinzessin war ihr das jedoch nicht gestattet.

Ihre beiden älteren Schwestern wurden mit Prinzen verheiratet, und es dauerte nicht lange, da hatte der König auch für Miaosan einen passenden Mann gefunden. Als sich seine Tochter weigerte, ihn zu heiraten, wurde der König so ärgerlich, dass er seiner Frau befahl, Miaoshan all warmen Kleider wegzunehmen und sie im Hof hinter dem Palast einzusperren, ohne ihr etwas zu essen zu geben. Dies tat die Königin, aber Miaoshan gab nicht nach. Das Gefängnis gefiel ihr sogar; Man ließ sie in Frieden, so dass sie beten konnte; Ihr Körper gewöhnte sich an die Kälte und sie konnte Pflanzen essen und Tau trinken.

Als der König und die Königin feststellten, dass die Strafe keinerlei Wirkung auf Miaoshan hatte, erinnerten sie sie , dass es ihre Pflicht war, ihnen zu gehorchen. Aber sie war entschlossen, in ein nahegelegenes Kloster einzutreten, in dem fünfhundert Nonnen ihr Leben der Andacht weihten. Da der König keine andere Wahl hatte, gab er schließlich seine Erlaubnis; Aber insgeheim befahl er der Äbtissin, seiner Tochter die niedrigsten und unangenehmsten Aufgaben im Kloster zu geben, damit ihr die Lust verging, eine Nonne zu sein.

Der Befehl wurde befolgt; Aber wiederum blieb die Wirkung aus. Miaoshans Entschluss war so unerschütterlich, dass die Götter im Himmel, besonders ein mächtiger Gott, den man unter dem Namen Jade-Kaiser kennt, Geister auf die Erde schickten, die ihr bei ihrer Arbeit halfen, so dass sie sich gar nicht besonders anstrengen musste. Als die Äbtissin das dem König berichtete, wurde es so zornig, dass er seine Soldaten mit dem Befehl schickte, das Kloster niederzubrennen, während seine Tochter drinnen war.

Während die Flammen um die von Angst erfüllten Nonnen züngelten, betete Miaoshan zu Buddha und er schickte einen starken Regen, der das Feuer löschte und sie alle rettete. Da geriet der König in noch schlimmere Wut als vorher, und er befahl, Miaoshan zu töten. Die Prinzessin war glücklich, dass sie nun bald im Himmel sein würde, und als die Soldaten sie hinrichteten, schickte der Jade-Kaiser eine Gott in der Gestalt eines Tigers auf die Erde hinab, der ihren Körper in einen dunklen Wald trug.

Ihre Seele wanderte in die Unterwelt wie andere menschliche Seelen auch; Aber ihre Heiligkeit verwandelte selbst diesen düsteren Ort in ein Paradies, so dass alle verdammten Seelen erlöst waren. Die Götter der Unterwelt waren darüber so aufgebracht, dass sie Buddha inständig baten, die fromme Miaoshan von dort wegzuholen, und er ließ sie nach Putuo tragen, wo ihre Seele sich wieder mit ihrem Körper vereinigte. Dort blieb sie und meditierte, und durch ihre Gebete wurde sie geläutert und vollkommen.

Sie konnten ihren eigenen Körper verlassen und auf diese Weise Dinge sehen, die andere nicht sahen. Dadurch war sie imstande, viele Menschen aus Gefahren zu retten.So rettete sie einmal den Sohn des Drachenkönigs des südlichen Meeres, der die Gestalt eine Karpfens angenommen hatte. Er war von Fischern gefangen worden und wurde nun zum Verkauf auf dem Markt angeboten; Aber Miaoshan schickte ihre Diener, die den Fisch kauften und ihn zurück ins Meer warfen. Der Drachenkönig war so dankbar, dass er Miaoshan eine wunderschöne Perle schenkte, mit deren Hilfe sie im Dunkeln sehen konnte.

In der Zwischenzeit war ihr Vater am ganzen Körper von der Beulenpest befallen worden, als Strafe für seine Grausamkeit gegen seien eigeneTochter. Er litt furchtbare Schmerzen, und die Ärzte konnten kein Heilmittel finden, das ihm Linderung verschaffte. Als Miaoshan davon hörte, ging sie - verkleidet als buddhistischer Mönch - zu ihrem Vater. Sie sagte ihm, dass die einzige Heilung durch ein Auge und eine Hand eines lebendigen Menschen kommen könnte ."Dieser Mensch muss vollkommen heilig sein", sagte sie, "und du wirst solch einen Menschen in Putuo auf der Insel Zhoushan finden."

Der König war dankbar für den Rat und schickte sofort nach Putuo. Während er auf die Rückkehr seiner Bediensteten wartete, planten seine beiden Schwiegersöhne, ihn zu töten. Sie wollten an die Macht, und seine Heilung von dieser Krankheit war nicht nach ihrem Sinn. Miaoshan sah dies und sagte es dem König, der seine beiden Schwiegersöhne sofort hinrichten ließ.

Miaoshan begab sich nach Putuo und sage zu den Dienern des Königs: "Schneidet mir ein Auge aus und eine Hand ab und bringt sie dem König." Sie taten das, aber es stellte sich heraus, dass dadurch nur eine Körperseite des Königs geheilt wurde. Die Diener wurden wieder losgeschickt, um das andere Auge und die andere Hand zu holen. Und wiederum gab Miaushan sie hin, und nach der Rückkehr der Diener war der König ganz geheilt.

Als der König sie aufforderte, ihm die Heilige zu beschreiben, die ein solches Opfer gebracht habe, sagten sie, dass sie seiner eigenen Tochter Miaoshan sehr ähnlich sei. Der König wusste sofort, dass sie es gewesen sein musste, und er gelobte, dass er mit seiner Familie eine Pilgerfahrt nach Putuo machen wollte. Und drei Jahre später machten sie tatsächlich diese Pilgerfahrt. Als der König den verstümmelten Körper seiner Tochter sah, fiel er vor ihr nieder.

Während seine Frau und seine Töchter weinten, bat der König, ihm zu sagen, wie
ihr Körper wiederhergestellt werden könnte. "Wenn du nur den Himmel verehren wolltest, Vater", sagte Miaoshan, "deine Sünden bekennen, Reue geloben und versprechen wolltest, ein reines und heiliges Leben zu führen, dann werde ich wieder vollständig."

Darauf erwiderte der König :"Ich habe das schlimmste Verbrechen an meiner Tochter verübt, und trotzdem hat sie sich für mich geopfert, um mir meine Gesundheit zurückzugeben. Ich gelobe, dass ich von diesem Tage an ein reines und heiliges Leben führen werde."Bei diesen Worten wurde Miaoshans Körper wieder ganz, und sie umarmte Vater und Mutter.

Fortan führten der König und die Königin und die drei Prinzessinnen ihr Leben rein und ohne jeden Tadel, und der Jade-Kaiser befahl, Miaoshan Guanyin zu nennen, die mitleidvolle und barmherzige Beschützerin der Sterblichen und die Königin der Meere.

 
Geister und Drachen der Chinesen
von Tao Tao Liu Sanders, Illustriert von Johnny Pau
Deutsche Übersetzung von Waltraud Mönnich
Tessloff Verlag 1981, ISBN 3-7886-0062-4